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Grimms Märchen – Warum ich keine Märchen der Brüder Grimm erzähle

Text © Uschi Erlewein

Aktualisiert: 10. Februar 2023


Wie die meisten Kinder, die in Deutschland aufgewachsen sind, kenne ich natürlich Grimms Märchen. Meine Oma hat mir immer welche vorgelesen, Abends oder wenn ich krank war.

Als ich klein war, kamen die Grimms Märchen aus einem unheimlich dunklen Buch mit alter Schrift auf braunen Seiten. Später, als ich selber lesen konnte, kamen die Märchen in hellerer Form zu mir. Mit Frau Holle auf dem Titelbild.

Als Erwachsene las ich quer durch die verschiedenen Ausgaben der Grimms Märchen und beschäftigte ich mich u.a. auch viel mit ihrer Symbolik. Durchstreifte die gesamte Palette von Deutungsversuchen, von theologisch, psychoanalytisch, volkskundlich, historisch, über anthroposophisch zu jungianisch-tiefenpsychologisch.

Als Kunsttherapeutin setzte ich oft Grimms Märchen ein; bei Malübungen, im therapeutischen Maskenspiel oder als Thema im Schattentheater.

Warum ich keine Grimms Märchen erzähle

Ohja, ich kenne die Märchen der Gebrüder Grimm. Doch fasziniert und zum Träumen angeregt haben sie mich nicht wirklich. Ich bin zwar damit aufgewachsen, doch geprägt hat mich anderes.

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Klassiker im Ohr

Ich erinnere mich gut an die Familien-Vorlese-Abende. Meine Mutter strickte, mein Vater las vor. Nein, nicht Grimms Märchen, sondern Goethe, Schiller, Mörike, die Klassiker.

Nach dem Krieg stillten meine Eltern ihren Hunger nach Literatur und Kultur. Ich sass oft dabei, hörte zu und blätterte in meinen Lieblingsbüchern: im “Blick ins Buch der Natur” oder den Büchern von Wilhelm Busch.

Oma, erzähl mir von Früher!

Omas Erzählungen “Von Früher”, damit bin ich aufgewachsen.

Mit ihren Geschichten vom “Pelzmärte”, der in den Rauhnächten von Haus zu Haus zog. Oder wie sie barfuß im Winter 1 Stunde in die Schule wandern musste. Vor und nach der Schule hütete sie die Gänse. Manchmal rissen die Gänse aus und stapften über Urgrossmutters frisch gewaschene Leintücher, die zum Bleichen auf der Wiese ausgebreitet lag.

Opa erzählte von seinen Wanderungen auf der Walz. Als Steinmetzgeselle war er bis nach Spanien gekommen und hatte dort den Bau von romanischen Rundbögen gelernt.

Oft nahm Opa mich mit zu seinen Freunden in die Werkstatt: zum Gärtner, Schreiner, Wagner. Dort schaute ich beim Hobeln zu, lernte Pflanzen zu pikieren und hörte Geschichten über das Leben und die Arbeit.

Oder wir besuchten den Nachbarn, der war Schleusenwärter am Neckar. Und meine Gedanken flogen mit den Neckarschiffen bis nach Rotterdam.

Der Duft der weiten Welt

Dann gab es immer wieder Besuch in meinem Elternhaus aus aller Welt. Alle brachten den Duft aus anderen Ländern mit.

Das alles geschah ja vor der Zeit von Pauschalreisen. Damals in den 1960er Jahren begann die erste Urlaubswelle, man reiste nach Österreich oder begann Italien zu entdecken. Nicht wie heute, wo Familien mit Schulkindern eben mal kurz in den Pfingstferien nach Tansania oder Australien fliegen …

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Sissy, die Tochter amerikanischer Freunde, las mir “Jack and the beanstalk”, Mary Poppins und die Geschichten von Dr. Seuss vor. Es roch nach Marshmallow und Peanutbutter. Wenn mir heute der Chlorgeruch von amerikanischem Waschmittel in die Nase steigt, bin ich sofort auf einer Zeitreise und sitze auf einem knallrosa Plüschhocker bei Sissy …

Eine Freundin meiner Mutter lebte in Indonesien. Einmal im Jahr kam sie auf Besuch nach Deutschland. Der Batikstoff, den sie mitbrachte, roch etwas muffig nach feuchtem Staub, aber auch nach Pfeffer, Gewürzen und Wachs. Ich hörte Geschichten von Hakenwürmern und neue Worte zergingen mir auf der Zunge, aromatisch wie reife Früchte: Gamelan, Bogor, Wayang Kulit, Nasi Goreng, Yogyakarta, Malang, Borobodur …

Der Duft des Curry

Dann wohnte in der Nachbarschaft Fräulein Wolff. Sie hatte ihr Leben lang in Südafrika gelebt. In ihrem Wohnzimmer hing der echte Zauberstab, den ihr ein afrikanischer Medizinmann zum Abschied geschenkt hatte.

Jaja, mit dem kann man wirklich zaubern, schließ die Augen und hör zu …”

Sie zeigte mir staubig-verblichene Fotos aus Afrika, erzählte afrikanische Märchen und erklärte wie Mangos schmecken. “Wie eine Mischung aus Pfirsich und Petroleum.”

Lange versuchte ich mir das vorzustellen, roch schaudernd an einer Petroleumlampe. Damals hätte ich nicht erwartet, dass Mango einmal zu meinen liebsten Früchten gehören werden. Von Fräulein Wolff stammt auch das Bittersüss von Grapefruitmarmelade und der Duft des Curry.

Fräulein Veronika wohnte in einer Dachkammer in der Nachbarschaft. Das Zimmer, ohne Heizung, gerade gross genug für das Bett, einen winzigen Tisch und einen Stuhl. Sie schenkte mir eine Muschel, die sie aus Ägypten mitgebracht hatte. Mit der Muschel am Ohr hörte ich zum ersten Mal die Musik des Meeres und roch die Pyramiden.

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In Gedanken reisen

Jede Woche verschlang ich stapelweise Bücher: Karl Mays gesammelte Werke, mit Sven Hedin in den Himalaya, auf einem Schilffloß mit Thor Heyerdal durch den Pazifik auf die Osterinseln, las alles über Ureinwohner Nordamerikas, über die Maya und Azteken, China und Japan …

Mit Marco Polo wanderte ich auf der Seidenstrasse und brachte die Maultaschen mit nach Hause. Dann war da natürlich noch Heinrich Harrer, mit dem ich “Sieben Jahre in Tibet” lebte. Seine Schwarz-Weiß-Filme waren meine ersten TV-Erfahrungen.

Faszination des mündlichen Erzählens

Obwohl ich schon als Kind viel las, habe ich immer dem mündlichen Erzählen den Vorrang gegeben. Es faszinierte mich ungemein, wenn gute Erzähler “etwas herbei erzählen und lebendig machen” konnten.

All diese Erzählungen der Menschen und Eindrücke aus anderen Ländern sog ich in mich auf. Das liess mich träumen, das fesselte mich. Das prägte mich viel mehr als Grimms Märchen.

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Erzählerische Weltreisen

Da war dann der Schritt zu Geschichten aus anderen Kulturen nicht weit. Als ich dann später mein Erzählrepertoire aufbaute, war es deshalb sonnenklar, dass mein Schwerpunkt auf den aussereuropäischen Erzähltraditionen liegt.

Heute denke ich auch, es gibt bereits so viele Erzähler und Märchenerzählerinnen, die Grimms Märchen erzählen, da braucht es mich nicht auch noch dabei.

Es war auch klar, dass ich nicht, wie viele andere Erzählerinnen, mein Repertoire nach menschlichen und psychologischen Themen ordne. Sondern nach Ländern und Erzählkulturen.

Meine Erzählprogramme sind erzählerische, imaginäre Reisen in entfernte Länder und Kulturen. Sie vermischen sich, auf Wunsch, auch mit Reiseberichten. Denn mittlerweile träume ich nicht nur von fernen Welten, sondern bereise sie auch und bringe authentische Geschichten von dort mit.

Erzählen Sie auch Märchen aus Deutschland?

Keine Grimms Märchen? Wo bleiben da meine Herkunft und meine Wurzeln?
Da wo ich aufgewachsen bin und – wie man bei uns sagt – wo ich den Leuten aufs Maul schaute: nämlich im Schwäbischen.

wehwehweh.mugganeschd.ade ist mein Erzählprogramm mit Geschichten aus Deutschland:  selbstgeschrieben, in Mundart auf schwäbisch, bodenständig und skurril wie das Leben. Und irgendwo zwischen Dichtung und Wahrheit.

Wenn ich an Heimat denke, tauchen schwäbische Dialektworte auf:
der Duft frisch gebackener Brezeln,
Fliegenfänger im Kuhdorf, Kirschenbäume und Strickzeug,
maulfaule Erinnerungen und Sparkassenfilialen,
Fensterläden und Laugenweckle,
Spätzle, Breschtling und Weinberge,
Entaklemmer, Halbdackel und der Schäppschenkl,
… und natürlich der Pelzmärte.


Übrigens das helle Märchenbuch gibt es nun als Nachdruck, hoffentlich noch mit den luftigen Aquarellen der 50er-Jahre von der Illustratorin Gisela Werner.

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Blick ins Repertoire:

Leserstimmen zu diesem Text:

Danke, liebe Uschi, Du hast mich mitgenommen auf eine Reise in Deine Jugend und ich bin Dir gerne gefolgt! Danke für dieses Geschenk! Ich denke jeder sollte nur Geschichten erzählen, in denen er (sie) sich zuhause fühlt! Wer erzählt muss die Worte schmecken, riechen, fühlen, die über die Lippen kommen!

Viele meinen Grimm= Deutsch, aber wer sich damit beschäftigt wird schnell merken, dass sehr viel Europe in Grimm steckt und es sogar orientalisch zugeht! Wichtig ist, dass die Geschichte erlebt wird, autentisch ( ist ja fast schon ein Unwort ) ist. Und in einem hast Du völlig recht, es gibt viele ErzählerInnen und MärchenerzählerInnen, die Grimm erzählen! Wie wunderbar es ist die Freiheit zu haben zu entscheiden! Ganz herzlichen Dank für`s Posten und liebe Grüße,

Birgit Fritz ( Erzählerin )

Wer schreibt hier:

Uschi Erlewein spielt Geschichten von weit her, die nahe gehen.
Professionelles Tourneetheater, generationsübergreifende Programme für Kinder und Erwachsene, kulturvermittelnde Erzählkunst.

Szenisch erzählte Geschichten aus und über andere Kulturen, ungewöhnliche Märchen, Mythen entführen auf eine Hör-Reise in andere Welten.