Vom Erzählen üben vor dem Spiegel halte ich wenig. Bewegungen rufe ich nicht ab, wie eine gelernte Choreographie oder Vokabel. Das ist nur äusserliche Form und wird schnell hohl.
“Darf ich Deine Schildkröte nachmachen?”
Meine Schildkröte? Wer das fragte, hat nicht begriffen, wie ich arbeite. Diese Erzählerin hat nicht erkannt, dass ich kein Bewegungsmuster, “so bewegt sich eine Schildkröte”, vor dem Spiegel lerne.
Viele Beobachtungen fliessen in die Bewegung und mein Erzähl-Spiel ein.
Ich suche und recherchiere. Für die Geschichte von der Schildkröte saß ich zum Beispiel stundenlang vor einem Terrarium, beobachtete Schildkröten und vertiefte mich in ihre Welt.
Ganz genau schaute ich den Bewegungen der Schildkröten zu. Und versuchte immer wieder nachzuspüren, wie sich eine Schildkröte fühlt. Ich stellte mir vor, wie die Welt wohl aus ihrer Perspektive aussieht. Ich recherchierte über ihre Lebensweise. Anhand ihrer Anatomie suchte ich z.B. eine Form, wie jemand ohne Zähne spricht.
Statt dem Erzählen üben vor dem Spiegel, ist es mir wichtiger, mich auf die Details der Erzählung zu konzentrieren. Ich muss mir die Geschichte, ihren Inhalt in allen Einzelheiten, ganz konkret vorstellen können. Wie die Schauspielerin Juliette Binoche über Bewegung spricht:
“Ich verinnerliche etwas, um eine Form zu finden. Für mich muss sich jede Bewegung aus einer Art geheimen Geschichte ergeben.”
Juliette Binoche
Innen und Aussen – Erzählen üben vor dem Spiegel
Mir geht es ja nicht darum, Bewegungen in eine Geschichte “einzubauen”. Bewegung kommt von verschiedenen Quellen, nicht du machst die Bewegung.
Die Körpersprache kommt aus der Geschichte und dem Erzählen heraus, also von innen nach aussen.
Ich arbeite nicht mit einem äusseren Spiegel. Doch während dem Studium bei meinem Theaterlehrer Tony Montanaro bestand ein Teil des Trainings darin, eine innere Projektionsfläche zu entwickeln. Sozusagen einen “inneren Spiegel”.
Wir lernten ganz in uns zu ruhen, uns von innen wahr zu nehmen und gleichzeitig auch von aussen zu sehen.
Dieser Wechsel der Perspektive ist wichtig.
Das Sichtbare und Unsichtbare
Vor dem Spiegel übe ich also nur ganz selten.
Wenn ich Körpersprache verkopft und intellektuell einstudiere, kann das auch nach hinten losgehen. Davon bekommt man mit der Zeit oft einen seltsamen, von aussen gesteuerten Blick auf sich selber. Das wird spürbar im Kontakt zum Publikum, zudem passen dann auch oft Stimme und Sprache nicht mehr mit den Bewegungen.
Ich habe mich viele Jahre intensiv mit Masken beschäftigt und Maskenspiel unterrichtet. Da konnte ich immer wieder beobachten, wenn die Kursteilnehmer mit der Maske übten.
Vor dem Spiegel spielten sie meist nur das, was sie sich ausgedacht hatten und meinten, dass es zur Maske passt. Sie haben sich nicht wirklich auf den Maskencharakter eingelassen und stellten lediglich ihre intellektuelle Interpretation der Maske dar.
Lässt man sich ganz auf das Spiel und das Wesen der Maske ein, wird man oft überrascht.
Dabei kommt man auf Themen, Bewegungen, Geschichten und Bilder, die man sich vorher nie hätte ausdenken können. Die Maske, ihre Form, ihr Wesen zeigt einem den Weg.
Beim Erzählen üben, wenn ich an Geschichten arbeite, gehe ich eigentlich nicht viel anders vor, als mit einer Maske.
Die Geschichte wird, wie die Maske, ein Teil von mir.
Und ich stelle mich der Geschichte mit meinen Körper und Stimme zur Verfügung. Stets versuche ich offen zu hören, was sie mir sagt. Dabei versuche mich nicht von Gedanken und Konzepten begrenzen zu lassen. Ich lasse ich mich ganz von der Geschichte leiten.
Leserstimme zu diesem Text:
Na, liebe Uschi, jetzt hätte ich aber vielleicht Lust die Schildkröte zu sehen und zu hören. Ein schöner Artikel der beschreibt wie die Arbeit am Erzählen funktioniert.
Alles Gute weiterhin und bitte bitte zeig uns die Schildkröte!
Kirsten Stein ( Erzählerin )
Mehr übers Erzählen auch in meinem Blog:
Blick ins Repertoire:
Die Geschichtenspielerin Uschi Erlewein spielt:
Geschichten von weit her, die nahe gehen