Nach den Erzählaufführungen stehe ich meist für Fragen zur Verfügung. Immer wieder werde ich dabei vom Publikum gefragt, “Wie gehen Sie vor, wenn Sie ein Märchen lernen und erarbeiten?” Eine kurze Antwort auf diese Frage zu geben, fällt mir nicht leicht.
Ich denke ja eher in in Erzählprogrammen, nicht in einzelnen Märchen.
Deshalb mache ich mir auch keine Gedanken darüber, wieviele Geschichten ich erzählen kann. Aus dem selben Grund habe ich auch keine Märchenliste hier auf der Website. Jedes meiner Erzählprogramme ist ein Ganzes, eine Komposition aus typischen Geschichten einer Erzähltradition.
Märchen lernen bedeutet für mich nicht, ein Märchen zu nehmen, es auswendig zu lernen, seine Symbole und die Botschaft zu verstehen.
Ich möchte die Geschichte durch das Erzählen lebendig machen.
Um ein Märchen so zu erarbeiten, bis es reif ist für das Publikum, ist ein komplexer Prozess, der oftmals über Monate geht. Bis ein 1-stündiges Erzählprogramm fertig ist, arbeite ich in der Regel mindestens 1 Jahr daran.
Märchen lernen und künstlerische Annäherung
Anfangs sind wir zu zweit: die Geschichte und ich, die Erzählerin.
Die Geschichte muss mich ansprechen, ich muss Lust dazu haben, mich näher mit ihr auseinander zu setzen und mit ihr zu leben.
Denn sobald eine Geschichte in meinem Repertoire landet, wird sie ein Teil meines Lebens.
Und ich werde sie noch viele Male in Aufführungen erzählen – je öfter sie erzählt wird, desto besser wird sie. Ich arbeite und schleife und poliere immer weiter daran. Und so wird aus dem anfänglichen Kieselstein ein Edelstein, in glücklichen Fällen ein Diamant.
Sobald ich mich für ein Märchen entschieden habe und es neu in mein Repertoire nehmen möchte, nähere ich mich ihm von vielen Seiten an.
Stets beschäftige ich mich mit möglichst vielen Varianten dieser bestimmten Erzählung. Ich halte meine Augen auf, suche Informationen und lasse das Märchen zu mir sprechen.
Märchen lernen bedeutet für mich also Annäherung und nicht Lernen von Worten.
Ich umkreise es. Sammle, mäandre, wie im Labyrinth. Manchmal dauert diese Phase nur kurz, manchmal Jahre, bis ich zum Herzen des Märchen gefunden habe. Manch eine Geschichte bleibt mir verschlossen und wandert ins Archiv.
Beim Erzählen will ich mit den Worten, inneren Bildern und der Körpersprache atmosphärisch eine eigene Welt aufbauen, ganz präzise und genau.
In dieser Anfangsphase mache ich alles mögliche, um die Handlung der Geschichte in Bilder und Emotionen umzuwandeln. Meine Methoden ändern sich im Laufe der Zeit immer wieder. Ich schreibe über die Geschichte, male ein Bild, sticke, collagiere, improvisiere, er-träume, er-singe, tanze … und tu alles, um dabei den analytischen Kopf auszuschalten.
Immer ist es eine künstlerische Annäherung an die Geschichte.
Geschichtenrecherche
In meinen Geschichtenprogrammen über andere Kulturen erzähle ich ja viele außereuropäische Geschichten, die häufig Elemente beinhalten, die für die meisten Mitteleuropäer nicht wirklich geläufig sind. Deshalb muss ich öfters Erklärendes hinzufügen, um sicher zu gehen, dass meine Zuschauer die Geschichte verstehen.
Ich suche nach einer künstlerischen Lösung, die der Kultur und den traditionellen Geschichten gerecht wird.
Deshalb ist es mir sehr wichtig, über die Kultur, aus der die Geschichte stammt, viel zu recherchieren. Nicht nur, was die konkreten Bilder in der Geschichte anbetrifft. Sondern auch über die Erzähltraditionen, über Geschichte, Religion, Regeln des menschlichen Umgangs, über den Alltag, Körpersprache und so weiter und so fort.
Die Geschichten aus aller Welt sind wichtig – bringen sie uns doch “fremde” Kulturen und deren Zauber näher und sind somit “GrenzBrecher”.
Diese Recherche über Erzähltradition und Kultur nimmt einen grossen Teil meiner Arbeit ein. Das klingt sehr umfassend – und das ist es auch! Im besten Fall reise ich in das entsprechende Land und kann dort vor Ort recherchieren.
Denn ich denke, die Bilder und Symbole sind von der Kultur und dem Leben des Ursprungslandes geprägt und können nur im Kontext des Ganzen verstanden werden.
Natürlich ist es fraglich, ob jemand aus einer anderen Kultur eine andere versteht. Ganz sicher können Erzähler aus der entsprechenden Kultur viel besser die Geschichten erzählen, die aus ihrem Geburtsland stammen. Nur steht leider oft die Sprache dazwischen. Nicht alle können so gut deutsch, dass sie sich getrauen vor einer großen Gruppe oder auf der Bühne zu sprechen. Es ist eben nicht einfach, sich in einer fremden Sprache genauso gut ausdrücken zu können, wie in der eigenen Muttersprache.
Es geht auch darum erzählen zu können und das dafür nötige Handwerkszeug zu haben. Reine Übersetzung kann sehr langweilig sein. Ich habe schon viele Märchenbücher gelesen, sicher gut übersetzt von professionellen Übersetzern, doch merkt man, dass sie keine Erzähler waren. Die Geschichten hatten zwar die ursprüngliche Form, waren in korrektem Deutsch lesbar niedergeschrieben, doch sie waren leblos geworden.
Das Geschenk des Publikums
Jetzt sind wir zu dritt: das Märchen – die Erzählerin – das Publikum
Nach der Vorbereitungszeit und Recherche ist das Märchen reif für die Öffentlichkeit.
Doch das Märchen lernen ist für mich dann noch nicht zu Ende. Bei jeder Aufführung, bei jedem Erzählen, lerne ich die Geschichten besser kennen. Wie ich sie erzähle verändert sich im Laufe der Jahre. Anfangs sind die Änderungen grösser, später immer feiner und feiner.
Gerade weil sie sich weiter entfalten dürfen, wird es mir auch nicht langweilig, die Märchen immer wieder zu erzählen.
Erst, wenn Geschichten auch Zuhörer haben, werden sie lebendig. Sie brauchen die Ohren und Herzen der Kinder und Erwachsenen. Und es ist nicht zu unterschätzen, wieviel sich vom Publikum in den Geschichten niederschlägt. Die Reaktionen, Fragen, die Atmosphäre im Raum, all das landet letztlich in meinen Erzählungen.
Nur, wenn ich frei mit den Märchen umgehe, mit ihnen durch den langen Annäherungsprozeß vertraut bin, kann ich während dem Erzählen die Reaktion des Publikums aufschnappen. Und darauf reagieren.
Neuerzählung & Improvisation
Alle von mir erzählten Geschichten sind von mir übersetzt, neu geschrieben und, entsprechend meinem Erzählstil, neu geschaffen.
Schreiben ist für mich dabei eine Phase der Strukturierung. Vergleichbar mit einem Einkaufszettel. Ich setze mich hin und überlege, was ich brauche. Was wesentlich und unverzichtbar ist. Wenn ich dann losgehe, brauche ich den Einkaufszettel nicht mehr.
Genauso ist das für mich beim Erzählen. Ich erzähle frei, lerne nicht auswendig. Ich ordne, inszeniere und kenne meine Bausteine.
Doch im konkreten Moment des Erzählens improvisiere ich, lasse ich immer die Türen offen für bessere Formulierungen, für Richtungsänderungen, andere Reihenfolgen, Reaktionen des Publikums.
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Sie interessieren sich für das Erzählen?
Hier auf meiner Erzähler-Webseite geht es hauptsächlich um mein Angebot als professionelle Erzählerin. Falls sie praktische Tipps übers Erzählen und fürs Märchen lernen suchen, schauen Sie doch mal in meinem Blog Ethnostories vorbei. Sie können mir dort auch Fragen stellen, die ich gerne in meinen Texten berücksichtigen werde.
Die Geschichtenspielerin Uschi Erlewein spielt:
Geschichten von weit her, die nahe gehen