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Geschichten zum Erzählen auswählen – so gehe ich vor

Text © Uschi Erlewein

Aktualisiert: 22. Oktober 2022


Wie entscheidest du dich für Geschichten zum Erzählen?
Nimmst du traditionelle, moderne oder auch selbst verfasste Geschichten?
Gehst du beim Erzählen auf das jeweilige Publikum ein?
Oder schleifst du die Geschichte fein und erzählst sie im “Bestzustand”?

So fragte vor einiger Zeit mein Erzählerkollege Sebastian Buchner, aus Wien. Ich mag solche Fragen über Grundsätzliches, denn sie lassen mich nachdenken über Dinge, die mir so selbstverständlich sind.

Viele Faktoren fliessen mit ein

Ich denke nicht in einzelnen Geschichten, sondern in Erzählprogrammen. Jedes meiner Erzählprogramme ist ein Ganzes, mit seiner eigenen Dynamik.

Bei einer Aufführung erzähle ich nicht nur eine Geschichte, sondern eine ganze Kollektion von Geschichten. Ich entscheide mich also nicht nur für eine, sodern gleich für mehrere Geschichten zum Erzählen, genügend für ein 1-stündiges Programm. Weil ich immer das Erzählprogramm im Auge habe, ist es für mich auch nicht wichtig, wie lang meine Märchenliste ist und wie viele Märchen ich erzählen kann.

So ein Programm soll keine Aneinanderreihung von Geschichten sein, sondern braucht auch insgesamt einen Spannungsbogen.

Ich habe gerne eine Komposition von verschiedenen Stimmungen, mal lyrisch, nachdenklich, mal lustig, mal dynamisch. So ist z.B. ein Auswahlkriterium, dass ich eine kurze lustige Geschichte suche, weil so was noch für die Dynamik des Erzählprogrammes fehlt.

Ob es sich dabei um einen Mythos, ein Märchen, eine Weisheitsgeschichte, eine Fabel oder eine Moderne Sage handelt, ist mir eigentlich egal. Ich bin keiner literarischen Gattung verpflichtet.

Das wichtigste ist mir, dass die Geschichte der fehlende Teil im Gesamtkomposition des Erzählprogramms ist.

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Geschichten zum Erzählen fasse ich neu in meine Worte

Ich erzähle frei, also nicht texttreu, nach einem Autor oder Märchensammler. Durch meine Neuschreibung übernehme ich die Verantwortung für die Geschichte. Sie bekommt dadurch “meinen Atem eingehaucht”. Das ist mir ein wichtiger Aspekt meines Erzählstils.

Besonders bei traditionellen Geschichten achte ich dabei darauf, den Inhalt nicht zu verändern.

Improvisation ist immer dabei

Offen für das, was vom Publikum kommt, bin ich immer. Jedes Publikum gibt mir andere Ideen und hinterlässt einen Eindruck auf den Geschichten.

Improvisieren habe ich von der Pike auf gelernt, das liegt mir im Blut und improvisieren tu ich immer. Trotzdem bin ich stets auf der Suche nach dem besten Weg und lasse die Geschichten wachsen.

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Ich erzähle nur Geschichten, zu denen ich einen Bezug habe

Wenn ich vom Inhalt einer Geschichte nichts verstehe, erzähle ich sie nicht. Oder ich suche nach Informationen und recherchiere, um vielleicht einen Zugang zu finden.

Wenn ich dabei keinen Bezug zu den Geschichten, zum Thema oder der Kultur entwickeln kann, lasse ich konsequent die Finger davon. Das ist z.B. auch mit ein Grund, weshalb ich keine Grimms Märchen im Repertoire habe. So kommt es schon mal vor, dass ich deshalb nicht einen Kundenwunsch erfülle, weil ich mit dem gewünschten Thema für einen Auftritt nichts anfangen kann.

Ich bin davon überzeugt, Geschichten zum Erzählen müssen zu meiner Erzählerpersönlichkeit passen. Ich muss den Humor und ihre Atmosphäre atmen können, den Rhythmus spüren, die Bilder erträumen.

Denn eine Geschichte ist nur deshalb gut erzählt, weil ihr der Erzähler durch seine Persönlichkeit und Erzählstil der Geschichte eine besondere Klangfarbe gegeben hat.

Ich gehe meinen Weg als Künstlerin und lasse mich nicht von Trends und Moden davon abbringen, stets auf der Suche nach dem Eigenen, nach meinem Erzählstil, nach meinem Ausdruck.

Nur wenn Erzähler sich mit und durch die Geschichten ausdrücken, wird Erzählen zur Kunst.

Erfahrungen einfliessen lassen

Wenn ich Geschichten zum Erzählen aussuche, ist es mir wichtig, dass sie über etwas berichten, mit dem ich eigene Erfahrungen habe.

Zum Glück habe ich schon vieles im Leben gemacht. Zum Beispiel habe ich mich jahrelang mit verschiedensten Textiltechniken beschäftigt. Mit Weben, Filzen, Nähen, Patchwork, Sticken, Spinnen habe ich mir einen Gutteil meines Kunststudiums finanziert. So taucht z.B. das Weben immer wieder in meinen Geschichten auf. Demnächst stelle ich all diese Textilgeschichten zu einem extra Erzählprogramm zusammen.

Erlebnisse sammeln

Ganz sinnlich versuche ich mich zu nähern. An eine Geschichte, an ein Land, eine Kultur. Dabei nutze ich allerlei, wie ich zu eigenen Erfahrungen komme:

  • Dokumentationen im Fernsehen anschauen
  • Sich mit Bildern füttern. Fotos anschauen, ich mache das u.a. auf Pinterest
  • Leute suchen, die mir was aus ihrer Kultur lehren, z.B. afrikanisch tanzen & trommeln, Obertonsingen, Hula tanzen …
  • Die Kultur schmecken: typische Gerichte kochen, Gerüche, Parfüm
  • Museum und Ausstellungen besuchen
  • Bücher lesen
  • Reisen

Leider geht es nicht immer, dass ich in das Land reise, von dem ich Geschichten erzähle. Dann muss ich mich kümmern, um trotzdem so viel wie möglich selbst zu erleben und zu erfahren.

Zum Beispiel sollte ich für das Völkerkundemuseum ein Erzählprogramm mit Geschichten aus Afrika zusammen stellen. Jetzt war ich aber weder in Afrika, noch hatte ich Zeit und Geld, um hin zu reisen. Also überlegte ich, wo ich Bezüge zu Afrika habe.

Mir wurde klar, dass ich eine Erfahrung brauche, ganz direkt, ganz körperlich. Afrikanischer Tanz! Das war der richtige Einstieg. So nahm ich zu Julie Najjumba Kontakt auf, die damals ein afrikanisches Kulturcafé in Heilbronn eröffnet hatte. Wir lernten uns kennen, sie gab mir Tipps, wir freundeten uns an und tanzten zusammen. Später entstanden aus dieser Begegnung sogar ein gemeinsames Bühnenprogramm und etliche Aufführungen, bis Julie zu ihrer Familie nach Amerika zog.

Detail einer Wandmalerei im Königspalast Klungkung, Bali, Indonesien (Foto: Uschi Erlewein - Die Geschichtenspielerim)

Geschichten wie Gedichte

Für mich ist Erzählen sehr nahe an der Poesie – das heißt aber nicht, dass es nur von blumigen Worten triefen muss. So bin ich immer auf der Suche nach den besten Worten, die das am besten ausdrücken, um was es geht. Wenn ich Worte gefunden habe, die treffend sind, behalte ich die Worte eine Zeit lang – bis ich noch bessere finde.

Gedichte lerne ich auswendig, Geschichten nicht.

Eigentlich erzähle ich meist mit einer Mischung aus “momentanem Bestzustand” bei wichtigen Stellen in der Geschichte und totaler Improvisation.

Gewürzt vom Erzählen

Je öfter eine Geschichte erzählt wird, bekommt sie Würze vom Erzählen.

Wenn eine Geschichte in meinem Repertoire landet, dann erzähl-spiele ich sie oftmals über Jahre hinweg. Sie wächst und verändert sich mit mir – und ich wachse an der Geschichte.

Es geht nicht darum, die richtige Geschichte zum Erzählen zu finden.

Wie bei einem Maler ist es nicht das Material, z.B. die teuere Ölfarbe, das die Qualität des Bildes ausmacht – sondern wie dieses Material verwendet wird, wie die Komposition, der Ausdruck des Bildes ist.

Ich möchte dass das Publikum davon begeistert ist, wie ich eine Geschichte spiele. Wie ich es schaffe ihr Leben einzuhauchen, sie zu einem Teil von mir zu machen.

Es geht darum, was ich aus der Geschichte mache.

Jeder Erzähler hat eine bestimmte Art, wie er die Geschichte bearbeitet. Wenn mehrere Menschen den selben Gegenstand sehen, so ist die Wahrnehmung doch sehr verschieden.

Für mich ist der gesamte Entwicklungsprozess Teil meiner Erzählkunst. Nicht nur die die einzelne Geschichte oder die öffentliche Präsentation. Alles gehört dazu, von der Suche nach Geschichten, der Recherche und Erarbeitung eines Erzählprogrammes, bis hin zur Aufführung.

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Mit den Geschichten leben

“Choose wisely, which story you like to live.”

ROBERT HARVEY, ROY HART THEATER

Diesen Rat hat mir mein Lehrer Robert Harvey, bei der Stimmarbeit gegeben. Damals haben mich diese Worte etwas irritiert. Denn sie bezogen sich auf eine Hexengeschichte, an der ich gerade arbeitete. Robert war Musicaldarsteller gewesen, er sagte:

“Du musst wissen, wenn du etwas auf der Bühne darstellst, bleibt immer auch etwas davon an dir und deinem Leben hängen. Das ist meine Erfahrung, die ich dir mitgeben möchte. Suche sorgsam die Geschichten zum Erzählen aus.”

Robert Harvey, Roy Hart Theater

Mittlerweilen verstehe ich, was er mir sagen wollte: Wenn ich eine Geschichte erarbeite, lebe ich mit ihr über Jahre. Für lange Zeit wird sie mir zum Freund und Begleiter. Sie wächst und verändert sich, sie bekommt ein eigenes Leben und vermittelt mir ihre Weisheit. Sie sinkt tief in meine Träume und hinterlässt dabei in meinem Leben ihre Spuren.

Deshalb ist es sehr wohl wichtig sich zu überlegen,
welche Geschichten ich zum Erzählen auswähle.

Blick ins Repertoire:

Wer schreibt hier:

Uschi Erlewein spielt Geschichten von weit her, die nahe gehen.
Professionelles Tourneetheater, generationsübergreifende Programme für Kinder und Erwachsene, kulturvermittelnde Erzählkunst.

Szenisch erzählte Geschichten aus und über andere Kulturen, ungewöhnliche Märchen, Mythen entführen auf eine Hör-Reise in andere Welten.